Wie wir den Meldungen der Fachpresse in den letzten Monaten entnehmen können, ist die psychische Situation bei Kindern und Jugendlichen sehr schwierig.
Die Gründe für diese Krise sind vielfältig und hängen wohl eng mit der Pandemie und deren Schutzmaßnahmen zusammen: Isolation, Abschottung von der Peergroup, den Eltern ausgeliefert sein, gestörte Ablösungsprozesse vom Elternhaus und aus fachlichen Schul-Problemen werden persönliche.
Zugleich sind die Therapie- und Beratungsplätze sehr rar, professionelle Hilfe ist mit langen Wartezeiten verbunden.
Lösung in Gestalt von ChatBots scheint zu nahen
Und dann taucht da im November 2022 ein Phänomen auf, das gar nicht neu ist, aber plötzlich zum Hype wird. Der ChatGPT-3 erobert die Welt, und zwar nicht nur die Fachwelt sondern kann jetzt von allen genutzt werden, die einen Compter bedienen können.
Interviews werden mit ihm geführt, Artikel mit seiner Hilfe geschrieben, Hausaufgaben von ihm erledigt, er unterstützt bei der Recherche - und: er wird auch zum Gesprächspartner bei Lebensfragen!
Die Pionierin dieser therapeutischen ChatBots ist ELIZA, die bereits 1966 zur Überbrückung der Wartezeit auf einen Therapieplatz eingesetzt und von der University of Stanford wissenschaftlich begleitet wurde.
Die Wirkung war verblüffend: die Patient:innen fühlten sich wohl mit ELIZA, vertrauten ihr Sachen an die sie „einem Therapeuten erst nach langer Zusammenarbeit erzählt hätten“ und profitieren erstaunlich viel von ihr.
Danach gab es eine kleine Pause bis dann in den 2000er Jahren weitere Coaching- und Therapie-ChatBots auf den Markt kamen, wie z.B. Woebot oder Wyza. Auch hier ließen sich bemerkenswerte Erfolge verzeichnen.
Das heißt: wir haben ein Problem (Krise und wenige Therapieplätze) und anscheinend eine gute (Zwischen-)Lösung: einen intelligenten Chatbot als Gesprächspartner.
Nicht OB die Kids einen ChatBot für persönliche Themen nutzen ist die Frage, sondern das WIE
Wir gehen davon aus, dass Kinder und Jugendliche mit Sicherheit den ChatGPT oder vergleichbare ChatBots nicht nur für die Erledigung von Hausaufgaben, sondern auch als Gesprächspartner nutzen werden.
Denn er ist (noch) frei zugänglich, wird von Pädagog:innen kritisch beäugt und dadurch für Jugendiche besonders interessant. Es geht also weniger um das ob, sondern vielmehr darum wie diese Nutzung aussehen wird.
Da drängt sich eine Frage auf, nämlich:
Kann, soll oder muss ein ChatBot als emotionaler Unterstützer für Schüler:innen im Unterricht empfohlen oder bewusst im Unterricht genutzt werden?
Genau diese Frage leitete durch die Session, die Matthias und ich auf dem #ausbaldowerBarcamp am 2.2.23 mit über 1700 Teilnehmenden aus dem Bildungsbereich anboten.
Wir wollten gemeinsam herausfinden, wie sich so ein Unterstützer-Gespräch anfühlt, um dann eine erste Entscheidung oder Idee für den Einsatz zu entwickeln.
Zu drei Fragen forderten wir Unterstützung von ChatGPT ein und spürten bei den Antworten die emotionale Wirkung nach.
Zunächst simulierten wir drei Eskalationsstufen von negativen Zuständen. Ein alltägliches Motivationsloch (Stufe 1), dann eine tiefer gehende Sorge wegen einer wichtigen Chemieprüfung (Stufe 2) und schließlich eine richtige emotionale Krise, die zu einer Beinahe-Schulverweigerung (Stufe 3) führt.
Wir schlüpften in die Rolle jeweils einer / eines der Jugendlichen und klagten dem ChatGPT unser Leid - und warteten mit Spannung, wie er reagiert.
Was er uns wohl auf den Weg gibt? Wird er uns ernst nehmen? Wird er eher oberlehrerhaft oder aber wertschätzend sein?
Und wie werden wir selbst auf seine Antwort emotional reagieren? Nach jeder Stufe war Zeit für ein Hineinspüren und Festhalten der emotionalen Reaktion.
Eskalationstufe 1: Motivationsloch
Eskalationstufe 2: Sorgen wegen Chemie-Prüfung
Eskalationstufe 3: Tiefe Krise
Die Reaktionen auf die Antworten des ChatBots sind erstaunlich positiv
Im Anschluss sammelten wir (aus Zeitgründen für alle 3 Stufen zusammen) die emotionalen Reaktionen.
Das Ergebnis finden wir überraschend: Der ChatGPT wird v.a. als empathisch und verständnisvoll erlebt, aber auch als oberflächlich.
Kein Wunder, denn es war nur eine Frage mit einer Antwort Simulation und kein längerer Dialog.
Natürlich schauten wir auch, wie es ist, wenn man ein positives Erlebnis teilt, weil womöglich grad keiner da ist, mit dem man darüber sprechen kann. Auch hier freute man sich über die positive Rückmeldung.
Ein klares JA zur gemeinsamen Erforschung des Chatbot als Unterstützer-Buddy im Unterricht
Nach einer Austauschrunde in Kleingruppen und im Plenum zeichnete sich ein klares Bild ab: Erstaunen über die emotionale Wirkung und eine Offenheit ihn nicht nur für Sachfragen, sondern auch für emotionale Themen einzusetzen - zumindest solange es um „normale“ Befindlichkeiten geht.
Praktisch ALLE sind sich einig, dass ein Coach-ChatBot unbedingt im Unterricht gemeinsam mit den Schüler:innen erforscht und genutzt werden sollte.
Zwiespältig ist die Haltung, ob man ihn auch nur empfehlen kann, ohne weitere Begleitung
Bei einer reinen Empfehlung im Unterricht des ChatBots als Möglichkeit der Unterstützung (nach dem Motto „wenn es dir wegen der gerade erhaltenen Note nicht so gut geht und du niemanden zum Reden hast, dann wende dich doch mal an den ChatGPT“) scheiden sich die Geister. Die einen sagen „ja“, die anderen „nein“.
Unser Fazit aus der Session
Ein sehr positives Ergebnis, das für die Offenheit und zugleich für das Verantwortungsbewusstsein der Lehrenden spricht und ein spannendes Zukunftsszenario für in seelische Not geratene Schüler:innen zeichnet.
Und jetzt sind wir Trainer:innen dran:
wie können wir diese Möglichkeit in unseren Trainings und Workshops einsetzen?
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ALLE Dokumentationen zum BarCamp
Über 70 Sessions fanden an diesem Tag statt: auf Augenhöhe, kollaborativ, unterstützend und v.a. alle sehr bereichernd.
Hier findest du alle Dokumentationen:
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