
Stelle dir vor, du bist in einem Restaurant und möchtest bezahlen. Was tust du? Vermutlich legst du den Geldbeutel auf den Tisch.
Allen um dich herum ist klar, dass du nun bald aufbrechen wirst - und einer aufmerksamen Bedienung auch. Woher wissen das eigentlich alle, obwohl ihnen das niemand je explizit beigebracht hat? Sie wissen es und wir verhalten uns so, weil wir so sozialisiert wurden. Sozialisation ist das implizite Lernen von Normen und Werten durch Interaktion - und ist sehr mächtig. Das gilt auch fürs Lernen.
Was ist Lernsozialisation?
Die Lernsozialisation bezeichnet den Prozess, durch den Lernende in Schule, Ausbildung, Universität oder Arbeitsplatz erfahren, wie Lernen abzulaufen hat. Lernsozialisation spielt also eine zentrale Rolle bei der Vermittlung von Normen, Werten und Denkweisen in Bezug auf Lernen und trägt zur Identitätsbildung als Lernende bei. Sie ist in aller Regel unbewusst und wird nur selten in Frage gestellt.
Viele dieser Lernnormen werden seit vielen Jahren aufgrund gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Herausforderungen in Frage gestellt, jedoch ist der Wandel sehr zäh - wie bei jedem impliziten Regelwerk.
3 Beispiele für Lernsozialisiation und deren Auswirkungen
Hausaufgaben sind ein lästiger Teil des Lernens
→ Schüler:innen lernen früh, dass Lernen nicht nur im Unterricht stattfindet, sondern auch zu Hause. Die Erwartung, dass Hausaufgaben gemacht werden müssen, wird selten hinterfragt und gehört zum schulischen Lernen dazu. Es ist lästig und würde man als Schüler:in gerne abschaffen.
!! Dieses Narrativ erschwert das selbstgesteuerte Lernen später in Uni und Arbeit ungemein, weil das zusätzliche Lernen zu Seminar oder Training negativ besetzt ist und vermieden werden muss.
Die Rolle der Lehrkraft wird als Wissensautorität anerkannt
→ Lernende übernehmen die Vorstellung, dass Lehrkräfte oder Dozierende die Hauptquelle für Wissen sind und ihre Anweisungen befolgt werden sollten. Dieses Autoritätsverhältnis prägt ihre Wahrnehmung von Lernen und Wissenserwerb.
!! Dieses Narrativ erschwert das selbstverantwortliche Lernen, weil man es gewohnt ist, sich auf andere zu verlassen und nicht auf sich selbst.
Prüfungen als Maßstab für Lernerfolg begreifen
→ Studierende oder Auszubildende verinnerlichen, dass Noten und Tests darüber entscheiden, ob Lernen als erfolgreich gilt. Sie orientieren ihr Lernverhalten an Prüfungsanforderungen, oft ohne zu hinterfragen, ob diese tatsächlich tiefgehendes Verständnis widerspiegeln.
!! Dieses Narrativ erschwert das nachhaltige Lernen, weil nicht die Praxisanwendung und die eigene Entwicklung im Vordergrund stehen, sondern nur eine kurze Ist-Situation.
Welchen Einfluss hat Lernsozialisation auf das betriebliche Lernen?
Lernsozialisation prägt also sehr stark, wie Mitarbeitende betriebliche Lernprozesse wahrnehmen und sich daran beteiligen. Dies erklärt, weshalb viele Maßnahmen aus L&D, HR oder PE nicht anschlussfähig sind.
1. Erwartung formalisierter Lernformate:
Viele Mitarbeitende sind es gewohnt, dass Lernen strukturiert, lehrkraftgesteuert und prüfungsorientiert abläuft. Sie haben oft Schwierigkeiten, selbstgesteuerte oder informelle Lernformen (z. B. Learning-on-the-Job, Mentoring oder Peer-Learning) als wertvoll zu erkennen.
2. Passives Lernverhalten:
Durch traditionelle Schulsozialisation kann die Erwartung entstehen, dass Wissen primär vermittelt statt aktiv erarbeitet wird. Dies kann dazu führen, dass Mitarbeitende in Schulungen eine konsumierende Haltung einnehmen, statt aktiv zu hinterfragen oder Wissen eigenständig zu vertiefen.
3. Bewertung von Lernen anhand messbarer Erfolge:
Viele Lernende verknüpfen Lernen mit Prüfungen oder Zertifikaten. Wenn betriebliches Lernen nicht mit formellen Abschlüssen oder klaren Leistungsnachweisen verbunden ist, könnte die Motivation darunter leiden. Oder der Transfer des Gelernten mit dem erfolgreichen Abschluss gestoppt werden.
Welcher Handlungsbedarf leitet sich daraus ab?
Aufbau der Kompetenz zu selbstgesteuertem und informellem Lernen
Unternehmen sollten den Reifegrad an selbstgesteuerten Lernen zunächst ermitteln (auf Kultur-, Team- und Individual-Ebene) und dann die Art der Weiterbildung anpassen - das schließt Überforderung aus.
Lernkultur hinterfragen und weiterentwickeln
Es braucht eine bewusste Auseinandersetzung mit der bestehenden Lernsozialisation. Führungskräfte und Personalentwickler:innen sollten Mitarbeitende dazu ermutigen, starre Vorstellungen von Lernen zu hinterfragen und neue Lernformen zu akzeptieren.
Lernangebote an verschiedene Lernsozialisationen anpassen
Mitarbeitende haben unterschiedliche Erfahrungen mit Lernen. Unternehmen sollten vielfältige Formate anbieten (z. B. traditionelle Kurse, interaktive Workshops, digitale Selbstlernmodule oder erfahrungsbasiertes Lernen), um alle Lernenden abzuholen.
Lernen stärker mit Arbeitsprozessen verknüpfen
Statt isolierte Schulungen anzubieten, sollte Lernen als kontinuierlicher Bestandteil der Arbeit integriert werden. Learning-on-the-Job, Peer-Learning oder Mentoring-Programme können (ab einem bestimmten Lern-Reifegrad) helfen, alte Lernmuster zu durchbrechen.
Anreize für nicht-formales Lernen schaffen
Natürlich soll bei aller Anpassung an dem Status Quo der Mitarbeitenden kein Stillstand entstehen. Das Ziel ist und muss angesichts der Dynamiken in der Arbeitswelt und Gesellschaft das selbstgesteuerte Lernen sein. Um die Motivation dafür zu steigern, können Unternehmen alternative Anerkennungsformen (z. B. neue Rollen und Aufgaben, Feedbackkultur oder Entwicklungsgespräche) etablieren und so die Lernenden ermutigen.
Fazit: Lernsozialisation erkennen und entsprechend handeln
Lernsozialisation beeinflusst, wie Mitarbeitende an betriebliche Lernprozesse herangehen. Unternehmen müssen deshalb gezielt Maßnahmen ergreifen, um ein dynamisches, selbstgesteuertes und praxisnahes Lernverständnis zu fördern ohne die Lernenden zu überfordern.
Dies erfordert eine bewusste Veränderung der Lernkultur und eine Anpassung der Lernformate an unterschiedliche Sozialisationserfahrungen. Lernbegleitung kann diesen Prozess enorm beschleunigen.
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